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Lernen ist ein soziales Phänomen, denn es findet (fast) immer in Gemeinschaft statt. Auch das individuelle Lernen, wie wir es im Newsletter vom Januar betrachtet haben, ist abhängig von Wissen, das zuvor von jemandem erlernt und reproduziert wurde. Individuelles Lernen baut also auf gemeinsamen Wissen auf.
Auch Unternehmenseinheiten wie Projektteams oder Abteilungen besitzen solch gemeinsames Wissen. Das wird deutlich, wenn neue Kollegen eingestellt werden oder z.B. externe Berater zur Projektarbeit herangezogen werden. Diese müssen zu Beginn „eingearbeitet“ werden, also die bestehenden Prozesse, Abläufe und Gepflogenheiten des Teams (kennen-)lernen.
Gleichzeitig können es aber auch Einzelpersonen sein, die Ideen entwickeln und ihre neuen Erfahrungen und Erkenntnisse in eine Gemeinschaft, ein Projektteam oder eine Abteilung hineintragen. Gerade Ideen, die zu Veränderungen führen, entstehen oft bei einzelnen Personen oder kleinen Gruppen, und müssen dann weitergegeben werden, um gemeinsames Lernen im Change-Prozess anzustoßen.
Der Sozialforscher Etienne Wenger hat sich ausführlich mit dem Lernen in Gemeinschaften und Organisationen befasst u.a. in seinem Werk “Communities of Practice and Social Learning Systems”. Er vertritt die These, dass der Erfolg von Organisationen stark von deren Fähigkeit abhängt, als soziales Lernsystem zu agieren und selbst in größeren Lernsystemen wie zum Beispiel einer Branche oder einer Region aktiv zu werden und dort Wissensaustausch zu betreiben. Für Unternehmen der Daseinsvorsorge bedeutet dies, nicht nur eigene Erfahrungen im Betrieb zu sammeln und aus diesen zu lernen, sondern auch im Austausch mit anderen Energieversorgern, Wohnungsunternehmen, Verkehrsbetrieben oder Stadtwerken zu stehen und von den Erfahrungen anderer Unternehmen derselben Region zu profitieren.
Wenger nennt Lernen in seinem wissenschaftlichen Aufsatz “ein Wechselspiel zwischen sozialer Kompetenz und persönlicher Erfahrung”, also einer dynamischen Beziehung zwischen Individuen und der sozialen Gemeinschaft, der sie angehören. Wissen wiederum beschreibt er als die “Kompetenz, die Gemeinschaften im Laufe der Zeit aufgebaut haben” und die Erkenntnisse aus der individuellen Erfahrung einer Person mit ihrer Umwelt.
Um dies zu verdeutlichen, verweist er auf das Beispiel eines Onboarding-Prozesses. Ein neuer Mitarbeiter verfügt zum Einstieg in das Unternehmen bereits über eigenes Wissen, welches er aus Studium oder durch Arbeitserfahrung gewonnen hat und welches den Anforderungen seiner neuen Stelle genügt. Trotzdem wird er ohne die Unterstützung seiner neuen Kollegen nicht direkt arbeitsfähig sein, denn neben reinen Fachkompetenzen spielt in einer Organisation auch das gemeinschaftliche Wissen des eingespielten Teams bzw. der Abteilung eine Rolle. Dies können wiederkehrende Abläufe, kleine Rituale, eine bestimmte Sprache oder unausgesprochene Regeln sein. Für den neuen Mitarbeiter bedeutet der Onboarding-Prozess also immer auch einen Zugang zu diesem gemeinschaftlichen Wissen zu erhalten und es sich anzueignen. Genauso wichtig ist es, das Unternehmen, die Prozesse und die Unternehmenskultur verstehen zu lernen sowie sich auf die Gemeinschaft einzulassen und Vertrauen in bestehende Prozesse zu haben.
Gerade in Change Projekten werden mit der Einführung von neuen Prozessen bisher geltende Kompetenzen in Frage gestellt, denn das in den alten Prozessen kollektiv entwickelte Wissen lässt sich nicht mehr auf neue Prozesse anwenden und muss als Gemeinschaft neu erprobt werden. Damit muss auch gemeinschaftliches Wissen neu aufgebaut und gelernt werden.
Worauf müssen Sie also achten, um gemeinschaftliche Lernprozesse in Change Management-Projekten erfolgreich zu gestalten? Eine Übersicht zu den wichtigsten Faktoren finden Sie in unserer Darstellung.
Führungsqualitäten: Erfolgreiche gemeinschaftliche Lernprozesse in ihrem Change Management Projekt sind auf gute Führung angewiesen. Es ist Führungsaufgabe im Change, die notwendige Kommunikation und Kooperation für die Entwicklung und Praktizierung eines gemeinsamen Lernens zu initiieren.
Konnektivität: Lernen in Gemeinschaften ist nicht nur auf die Organisation gemeinsamer Termine und Workshops angewiesen, sondern auch auf funktionierende Netzwerke zwischen allen beteiligten Personen. Für Ihr Change Management Projekt in der Daseinsvorsorge ist es wichtig Möglichkeiten zu schaffen, über verschiedene Medien zu kommunizieren und zu interagieren. Hybride und remote Teams haben es dabei deutlich schwerer und bedürfen besonderer Beachtung.
Zugehörigkeit: Die Mitglieder eines Teams müssen eine kritische Masse an Interessen haben und sich einander zugehörig fühlen, um eine Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig dürfen Sie sich aber nicht zu ähnlich und in ihrem Wissen nicht zu gleich sein, damit überhaupt Lernpotenzial besteht. Genauso sollte darauf geachtet werden, dass die Mitgliederzahl nicht zu hoch ist, damit sich die Gemeinschaft nicht in Untergruppen aufspaltet.
Lernende Projekte: Um einen kontinuierlichen Lernprozess voranzutreiben, müssen Gemeinschaften Verantwortung für die eigene Lernagenda übernehmen und das gemeinschaftliche Wissen, aber auch den individuellen Wissenstand ihrer Mitglieder, bewerten und auf Lücken untersuchen. Dazu gehört auch die Analyse einiger Werkzeuge, Prozesse und Abläufe sowie die aktive Wissensbeschaffung, um Wissenslücken zu schließen. Mit bewährten Management Methoden, wie z.B. einer GAP-Analyse, lässt sich dieser Aspekt des gemeinschaftlichen Lernens in Change Projekten praktisch umsetzen.
Artefakte: Alle lernenden Gemeinschaften produzieren ihre eigenen Artefakte. Das können Dokumente aller Art, Geschichten, Routinen, Bilder usw. sein. Hier stellt sich immer die Frage: Welche dieser Artefakte werden wirklich benötigt, von wem werden sie produziert und wie werden sie gepflegt, damit sie nützlich bleiben, wenn sich die Gemeinschaft weiterentwickelt. In einem Change Management Projekt erfüllen Sie diesen Aspekt mit einer gut strukturierten Ergebnisdokumentation.
Theresia Röger